Rundschreiben – 12. Februar 2022 | Thema: Leid

Einige Wochen sind vergangen seit meinem letzten Rundmail. Jetzt sind die beiden Zyklen der Konsolidierungsphase fast vorbei. Das herrliche Winterwetter ermöglicht schöne Spaziergänge in der Februarsonne.

Liebe Familie und liebe Freunde,

diese Woche konnten wir fast jeden Nachmittag in der Umgebung von Rafz spazieren gehen.  Die Wintersonne wärmt in der 1. Februarhälfte bereits sehr angenehm, vor allem, wenn es windstill ist. Und schon streckt eine ganze Gruppe von Krokussen ihre lila Blütenblätter der Sonne entgegen (das Bild ist nicht von mir, gibt euch aber einen Eindruck, wie schön diese Farben sind). Solche Spaziergänge in der Sonne tun unserer Seele so gut!

Herzliche Grüße
Andreas

In den letzten Wochen hatten wir einige Belastungen, vor allem der Tod meiner Mutter, die am 21. Januar nach kurzer Leidenszeit im Alter von 84 Jahren von Gott in die Ewigkeit abberufen wurde. Es kam sehr überraschend. Am Samstag, 29. Januar 2022, nahmen wir als Familie zusammen mit Freunden und Bekannten in einem würdigen und bewegenden Trauergottesdienst in Ettlingen Abschied von ihr.

Unsere Gedanken sind täglich bei dem lieben Freund mit derselben Krankheit, dessen Frau am Jahresende offiziell mitteilte, dass er jetzt austherapiert und in der palliativen Phase sei, und ihre Kinder schon zum Abschied gekommen seien bzw. regelmäßig kommen. Das ruft auch bei uns und besonders bei meiner Frau die Szenarien zukünftigen Alleinseins in Erinnerung. Und das kostet manchmal emotional mehr, als wir uns bewusst sind, und bringt uns dann und wann auch körperlich an die Grenzen der Kraft.

Bis jetzt sind wir von Infektionen und Ansteckungen verschont geblieben, was nicht selbstverständlich ist. Das macht uns dankbar. Und wir warten gespannt auf die Geburt des 7. Enkelkinds.

In der Christlichen Gemeinde, in der wir uns engagieren, gab es in den letzten Wochen und Monaten Erfreuliches, vor allem was den Zuwachs angeht; das bedeutet für uns aber auch viel Zeit für Einladungen und Gespräche. Wir merken, dass wir nach über 10 Monaten mehr oder weniger ununterbrochener Therapien, Terminen, Arztgesprächen und C-Einschränkungen jetzt eine „Auszeit“ brauchen mit Abstand, Ruhe, Spaziergängen und Gesprächen zu zweit. Wir haben im März dafür 2 ½ Wochen im Kalender dick angestrichen 😊und halten diese von anderen Terminen und Verpflichtungen frei!

Zu meiner persönlichen Situation:

Letzte Woche begann der zweite von zwei Konsolidierungszyklen mit einer 3-er Kombination. Nach wie vor halten sich die Nebenwirkungen in Grenzen – dann und wann habe ich mal etwas mehr Wasser im Körper oder bin mitten in der Nacht dank dem Cortison hellwach; es gab erneut eine allergische Hautreaktion wie nach der ersten Hochdosis-Therapie, und eins der Mittel verursachte diesmal für 1-2 Tage grippeähnliche Symptome mit Gliederschmerzen, die aber von selbst wieder verschwanden. Dankbar bin ich dafür, dass vor allem die Nervenschädigungen in Fingern und Zehen, die das andere Mittel oft begleiten, bis jetzt weitgehend ausgeblieben sind; ich spüre aber schon manchmal ein unangenehmes Kribbeln in Fingern und Zehen und leichte Empfindungsstörungen. Dieses Mittel wird mich längerfristig in der Erhaltung begleiten, darum könnte sich das möglicherweise noch verstärken. Meine Oberschenkel sehen nach den häufigen Spritzen unter die Haut manchmal wie roter Marmor aus; sie werden warm wie bei einer Entzündung, es tut aber nicht weh und juckt nicht.

Meine Blutwerte sind nach wie vor weitgehend in Ordnung, nur die roten Blutkörperchen weiterhin etwas zu niedrig, und ein Leberwert leicht erhöht. Insgesamt bezeichnet der Onkologe die Situation bei mir als «sehr im grünen Bereich»; während seit Januar die schädlichen Proteine als «M-Gradient» nicht mehr messbar seien, wären sie bei der sogenannten Immunfixation noch erkennbar. Ich hätte damit zwar keine vollständige Remission erreicht, aber ich käme mit der «Sehr guten Teilantwort» (VGPR=Very Good Partial Response) dem Zustand einer «Vollständigen Antwort» (CR=Complete Response) sehr nahe. Ich bin allen dankbar, die mit uns von Gott das Wunder einer vollständigen Heilung erbitten.

Die Erhaltungstherapie beginnt dann Anfang März mit 14-tägiger Verabreichung des Chemo-Mittels; zusätzlich bekomme ich alle 4 Wochen eine Infusion für den Knochenaufbau.

Damit seid ihr wieder – was meine Krankheit und den Verlauf angeht – auf dem aktuellen Stand. Und ich möchte das wie immer mit einem großen Dank an euch alle verbinden, die ihr regelmäßig an Dietlind und mich denkt und für uns betet. Auch für alle ermutigenden Nachrichten und Grüße sind wir so dankbar.

Herzliche Grüße
Andreas

Post-Scriptum

PS:   Wen es interessiert – ich hänge unten noch ein paar Gedanken aus meiner momentanen Buchlektüre an.

Leid

Ein guter Freund empfahl uns das Buch „Gott im Leid begegnen“ von Timothy Keller – eine sehr gute Empfehlung! Für den Fall, dass du ein paar Gedanken von mir lesen willst, schreibe ich hier auf, was ich aus dem ersten Teil mitnehme (über den zweiten schreibe ich später mal, wenn ich den auch gelesen habe).

Zunächst zwei Zitate:

«Das Leiden hat in der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle erträglichen Vorstellungen übersteigt. … In einem Universum mit blinden physikalischen Kräften und genetischer Verdoppelung werden manche Menschen verletzt, andere haben Glück, und man wird darin weder Sinn und Verstand noch irgendeine Gerechtigkeit finden. Das Universum, das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, mit denen man rechnet, wenn dahinter kein Plan, keine Absicht, kein Gut oder Böse steht, nichts außer blinder, erbarmungsloser Gleichgültigkeit. Der DNA ist das egal. Sie existiert einfach. Und wir tanzen zu ihrer Musik.» (Richard Dawkins) [1]

«Anders als der Fatalismus lehrt das Christentum, das Leid schrecklich ist; anders als der Buddhismus, dass es real ist; anders als die Karma-Lehre, dass es oft ungerecht ist – und anders als der Säkularismus, dass es einen Sinn hat.» (Timothy Keller) [2]

Sie gehört zu den schwierigsten Fragen der Menschheit – die Frage nach dem Sinn von Leiden. Aber genauso wenig wie die Existenz des Bösen in der Welt können wir die Tatsache leugnen, dass ständig unvorstellbares Leid in dieser Welt geschieht und von Menschen an anderen Menschen verübt wird. Folgt man der materialistisch-deterministischen Antwort des Atheismus, wie sie R. Dawkins im obigen Zitat formuliert, dann erübrigt, ja verbietet sich eigentlich die Frage nach dem Sinn; und was noch schlimmer ist, es stirbt jede Hoffnung. Nein, das ist nicht die Antwort!

Der emeritierte Mathematikprofessor und Buchautor John C. Lennox macht in seinem kleinen Büchlein mit dem Titel „Wo ist Gott in dieser Welt?“ [3] die Unterscheidung in grundsätzlich zwei verschiedene Ursachen von Schmerz und Leid. Zum einen gebe es als Folge von Naturkatastrophen und Krankheiten Leid, für das der Mensch nicht oder zumindest nicht direkt verantwortlich sei. Dazu gehörten Erdbeben, Tsunami, Krebserkrankungen und Pandemien. Zum anderen aber gebe es Leid, für das Menschen direkt verantwortlich seien. Es seien Handlungen, die zum Beispiel durch Hass motiviert sind, wie Terror, Gewalt, Missbrauch und Mord. Es gebe also sozusagen das natürliche „Böse“ (wobei Naturkatastrophen keine moralischen Akteure sind), und das moralisch Böse. Und auf die tiefen existenziellen Fragen einfache Antworten zu finden, sei sehr unwahrscheinlich. Aber dann folgt seine Kritik an der Haltung von R. Dawkins, und er schreibt, dass mit der Einstellung, die im Zitat zum Ausdruck kommt, die Kategorien des Guten und Bösen durch blinde, erbarmungslose Gleichgültigkeit in einem fatalistischen Universum ersetzt zu werden scheint. Richard Dawkins leugne nicht, dass es so etwas wie Moral gebe; nein, es gehe ihm und anderen Atheisten darum, darzulegen, dass es keine rationale Rechtfertigung für die Konzepte von Gut und Böse gebe, weil es keinen Gott gebe. Aber, so argumentiert Lennox dagegen, wenn Terrorakte und Völkermord einfach nur das „Tanzen zur Musik der DNA“ seien, wer hätte dann eine Berechtigung, das als böse zu bezeichnen? Moral wäre bedeutungslos! Lennox schreibt, dass man nach dieser Sichtweise einfach nicht leben könne, wofür Richard Dawkins selbst der Beweis sei. Einerseits leugne er die Realität von Gott, und damit die Realität von Gut und Böse, bezeichne aber Ereignisse wie den 11. September und andere Gräueltaten als böse. Das ist das große Dilemma des atheistischen Glaubens.

Timothy Keller untersucht und vergleicht im ersten Teil seines Buchs verschiedene Kulturen – einschließlich der atheistischen Weltanschauung – hinsichtlich ihrer Antwort auf die Frage nach dem Leid und seinem Sinn. Und er kommt zu der nicht überraschenden Schlussfolgerung, dass unsere säkularisierte, westliche Gesellschaft am schlechtesten auf Leid und den Umgang damit vorbereitet sei. Oder mit anderen Worten: eine Gesellschaft, die Leid und Tod weitgehend verdrängt und das Streben nach persönlichem Glück und Wohlergehen zur höchsten Maxime gemacht hat, hat fast keine Antwort auf das Einbrechen von schwerer Krankheit oder anderen Katastrophen in die persönliche Selbstverwirklichung. Leid wird dann zur Störung, zum Unfall, dem man mit Experten begegnen muss, um es möglichst auf technische Weise zu beseitigen, wenn man es leider nicht vorher verhindern konnte.

Nun seid ihr bestimmt – wie ich auch – gespannt, worin gemäß Kellers Buch die Antwort des christlichen Glaubens besteht. Das beschreibt der Autor im zweiten Teil, den ich, wie oben erwähnt, noch lesen werde; danach kann ich euch in einem späteren Beitrag eine Zusammenfassung geben.

Andererseits kenne ich die Bibel schon lange und habe daraus viel über das Thema Leid gelernt, so dass ich auch ohne Kellers Buch sagen darf: Der christliche Glaube behauptet nicht, einfache Antworten auf die schwierigsten Fragen der Menschheit zu geben. Aber um es aus meiner persönlichen Erfahrung zu sagen: Ich erlebe Gottes besondere Nähe in den dunklen Stunden mehr als je zuvor; das Leid öffnet mir einen tieferen Blick für Gottes Liebe in seinem Sohn Jesus Christus und für sein Mitgefühl; und das führt zu tiefem Frieden im Herz, weil ich mich so geliebt und getragen weiß; angesichts der Realität von Krankheit und Tod erfüllt mich die lebendige Hoffnung auf das Leben nach dem Tod, wo es dann kein Leid mehr gibt, mit Freude. Insgesamt bringt mich das sogar dazu, Gott für diese Krankheit – die er zugelassen hat – zu danken. Jetzt verstehe ich besser, warum Jakobus, ein Briefschreiber im Neuen Testament, am Anfang seinen Briefempfängern zuruft:

«Seht es als einen ganz besonderen Grund zur Freude an, meine Geschwister, wenn ihr Prüfungen verschiedenster Art durchmachen müsst.» (Jakobus 1:2)

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[1] Richard Dawkins, Und es entsprang ein Fluss in Eden. Das Uhrwerk der Evolution (München: Goldmann, 1998), S. 150 f.; zitiert in: Timothy Keller, Gott im Leid begegnen (Gießen: Brunnen Verlag, 2021), S. 32

[2] T. Keller, Gott im Leid …, S. 44

[3] John C. Lennox, Wo ist Gott in dieser Welt? Und was ist mit Covid-19? (Lychen: Daniel-Verlag, 20209, S. 19

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