Einsam – echt!?

„Meine Schafe irren umher auf allen Bergen und auf jedem hohen Hügel; und über das ganze Land hin sind meine Schafe zerstreut worden, und da ist niemand, der nach ihnen fragt, und niemand, der sie sucht. …“ „Ich will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern, spricht der Herr, der EWIGE. Das Verlorene will ich suchen und das Versprengte zurückführen, und das Verwundete will ich verbinden, und das Kranke will ich stärken; das Fette aber und das Starke werde ich vertilgen: Wie es recht ist, werde ich sie weiden.“

Nach längerer Pause kommt von mir der aktuelle Status – ich bin am Ende des 4. Zyklus der Chemotherapie und damit am Ende der ersten Phase der Behandlung angekommen. Wie es weitergeht und warum ich über das Thema Einsamkeit nachgedacht habe, findest du in meinem neuen Beitrag, den ich heute in meinem Blog veröffentlicht habe.

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Ihr Lieben,

schon seit Tagen überlege ich, was ich in meinem Blog schreibe, um euch – zusammen mit einem Update meines Gesundheitszustandes – einen persönlichen Einblick in die verschiedenen Erfahrungen und Erlebnisse zu geben. Denn ich möchte euch nicht mit medizinischen Details langweilen noch soll es aufgrund belangloser Alltagsdinge ein nichtssagender und dann auch noch zu langer Bericht werden.

Darum will ich – bevor ich die Frage nach dem Titel beantworte – gleich mit einer Zusammenfassung der bisherigen Behandlung und dem Ausblick auf die nächsten Schritte beginnen.

Erste Phase abgeschlossen

Letzten Donnerstag bekam ich die letzte Spritze der Chemo, und am Freitag nahm ich die letzten Tabletten ein; damit ist der 4. Zyklus und insgesamt diese erste dreimonatige Phase der Behandlung nahezu abgeschlossen. Die letzten Tage glichen vom Ergehen her nochmal einer Achterbahn – der Gefühle, Schmerzen und des Wohlbefindens. Aber jetzt spüre ich, wie sich mein Körper von Tag zu Tag erholt, das eingelagerte Wasser, das mich etwas aufgedunsen hat, weniger wird, diverse Systeme wieder in normale Gangart kommen, und das Gefühl abnimmt, wie ein Ofen ständig beheizt zu sein. So langsam sind wohl die Fremdstoffe rausgespült. Bis zum nächsten Termin am 12. Juli habe ich Pause! Wie geht es weiter?

Vorbereitung auf nächste Phase

Austausch Knochenmark mit eigenen Stammzellen

Beim Termin am nächsten Montag nimmt der behandelnde Onkologe eine erneute Punktion des Knochenmark vor, wie schon am Anfang, als es darum ging, die Diagnose der Krankheit zu bestätigen. Diesmal möchte er anhand der Laborwerte das Resultat der gesamten Chemo-Phase bestimmen; mit dem hoffentlich erfreulichen Ergebnis meldet er mich dann am darauffolgenden Tag in der Uni-Klinik Zürich für die nächste Phase an, der „Hochdosis-Chemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation“. Details dazu werde ich in einem späteren Beitrag erzählen.

Einsamkeit

Vom vorletzten Wochenende möchte ich euch etwas von den Gefühlen und Erfahrungen weitergeben, die mich in der ersten Woche des 4. Zyklus dann beschäftigten.

Nach dem 3. Zyklus war es mir von Tag zu Tag besser gegangen. Samstagmorgens konnte ich sogar einen längeren Spaziergang an dem schönen Sommermorgen machen. Unsere älteste Tochter war mit ihrem Mann zu Besuch, und sie verwöhnten uns an diesem Wochenende mit gutem Essen, tatkräftiger Unterstützung, und zeigten uns ihre Liebe durch ihren Besuch.

So freute ich mich auf den Sonntag, wo ich endlich mal nicht nur die Wohnung, die Klinik oder die Physio-Praxis sehen würde, sondern am Gottesdienst teilnehmen und die Freunde sehen wollte. Dazu war ein gemeinsamer Nachmittag mit Mittagessen und Kaffeetrinken bei einem Ehepaar, in ihrem wunderschönen Garten, geplant. Das war – nach eineinhalb Jahren Corona – eigentlich zum ersten Mal wieder die Möglichkeit, Gemeinschaft und Austausch zu haben. Natürlich war mir klar, dass ich nicht den ganzen Tag durchstehen könnte. Darum hatten wir gedacht, dass ich wenigstens beim ersten Teil des Gottesdienst dabei sein würde, und dann nach einer Pause zuhause ein Stündchen am Nachmittag teilnehmen könnte.

Schon am Samstagabend aber nahmen leider die Rückenschmerzen zu, und als ich am Sonntagmorgen aufgestanden war, legte sich wieder eine bleierne Kraftlosigkeit und Müdigkeit auf mich, sodass ich traurig von dem Gedanken Abschied nehmen musste, dass ich heute aus dem Haus käme. Eigentlich war es nichts Neues, trotzdem muss man jedes Mal zuerst mit diesem Verlust und dem Schmerz, etwas nicht zu können, was man sich gewünscht hat, umgehen und fertigwerden.

Meine Frau und ich konnten wenigstens per Livestream am Gottesdienst teilnehmen. In solchen Momenten empfindet man die Möglichkeit der Technik wirklich als ein Segen. Darum möchte ich mal allen denen, die oft unbemerkt im Hintergrund so etwas möglich machen, und dafür zum Beispiel am Sonntag früher als andere aufstehen, alles testen und vorbereiten, und dafür oft kaum beachtet werden oder Anerkennung bekommen, von ganzem Herzen danken. Wir halten oft die für die Stars, die im Rampenlicht singen oder auf der Kanzel stehen – die wahren Helden des Alltags sehen wir meistens nicht. Ihr seid es, die für viele Kranke und nicht mehr mobile Leute die Helden sind!

Leider hielt mein Zustand auch durch den Montag hindurch an. Und nachdem unsere Kinder am Sonntagmittag abgefahren waren, wurde es ganz still bei uns. Natürlich brauchte mein Körper diese Ruhe, und ich schlief die meiste Zeit. Aber auch das Telefon blieb stumm, es kamen gefühlt keine Anrufe, keine Nachrichten, keiner, der nach uns fragte.

Könnt ihr euch vorstellen, wie man sich da fühlt? Als ich gesund war, konnte ich mir auch das nicht vorstellen, hatte ich keine Ahnung von solchen Gefühlen. Ich wusste manchmal von chronisch oder schwer Erkrankten im Verwandten- oder Freundeskreis. Und ja, man dachte manchmal voller Mitleid an sie. Und dass sie sich vielleicht über einen Anruf oder Besuch freuen würden. Aber was würde ich ihnen dann sagen? Ich fühlte mich doch angesichts des unfassbaren und nicht begreifbaren Leids sprach-und hilflos? Wusste nicht, wie man mit solchen Kranken oder ständig Bettlägerigen umgehen sollte? Und dann holte einen der Alltag wieder ein, und man vergass diese Leute.

Jetzt war ich in dieser Lage, und ich hatte das Gefühl, auf einmal nicht mehr zum normalen Leben zu gehören. Genauso vergessen zu sein, alleingelassen, irgendwie nicht mehr dazugehörend. (Ich musste später zugeben, wie kurzsichtig und subjektiv falsch mein Denken war, aber ich will trotzdem ehrlich beschreiben, was da in mir so vorging.) Die anderen lebten ihr Leben, wir saßen hier mit meiner Krankheit fest und in der Sackgasse, auf dem Abstellgleis – in der 2. Klasse.

Ist Einsamkeit etwas Objektives? In der Soziologie spricht man z.B. von dem Alleinsein als einem objektiven Begriff, und zwar wenn es um soziale Isolation geht. Aber Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, das wir oft stark empfinden.

Im Lauf des Montag, als ich mit Dietlind über diese Gefühle sprach, half sie mir, eine andere Blickrichtung zu bekommen. Zum einen, objektiv gesehen, sind wir nach wie vor überwältigt, wie viele nach uns fragen, uns sagen, dass sie für uns beten, und sich regelmäßig nach uns erkundigen; es vergeht keine Woche, in der wir nicht einen Blumengruß, oder eine Postkarte oder sonst eine Nachricht aus verschiedenen Teilen der Welt erhalten!

Zum andern erinnerte mich meine Frau an den Menschen, der wirklich die Einsamkeit und das Alleingelasssensein erlebt hat, und von dem die Bibel sagt, dass er voller Mitleid und Mitgefühl ist, weil er alles so erlebt hat wie wir. Das half mir sehr, meinen Blick zu korrigieren und Trost in dem Herrn Jesus zu finden, der mir auch in der Einsamkeit ständig nahe ist.

Einige Tage später telefonierte ich mit meinem Freund und Leidensgenossen dieser Krankheit, und er wusste sofort, wovon ich sprach; er und seine Frau kannten solche Gefühle. Es tat gut, verstanden zu werden und uns gegenseitig Mut zu machen. Wir fragten uns, woher wohl bei manchen das Unverständnis für solche Gefühle herkommt, so dass man fast etwas wie Ablehnung empfindet. Ich denke, ein Stück weit liegt es an unserer Gesellschaft, die das Thema Leid, chronische Krankheiten und Tod auszuklammern sucht. Andererseits liegt es auch an der daraus entstehenden Unsicherheit, wie man damit umgehen soll. Wieviele haben mir gesagt, als ich ihnen von meiner Krankheit erzählte: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Ja, so ging es mir früher auch! Und leider resultiert das oft darin, dass wir auf Distanz zu den leidenden Menschen gehen, weil wir nicht wissen, wie wir mit dem Leid und dem Thema Tod umgehen sollen.

Mir ist aber auch völlig der Unsegen unserer heutigen Zeit bewusst. Niemand hat mehr Zeit. „Hast du mal Zeit?“ scheint per se eine rhetorische Frage geworden zu sein. Wir sind wie Getriebene – für die alten Leute zum Beispiel, die einsam in Pflegeheimen sitzen, die zu nichts mehr „nütze“ sind, haben selbst die nächsten Angehörigen oft keine Zeit: Niemand besucht sie, niemand beschäftigt sie, spielt mit ihnen, singt, verbringt Zeit. Lebensunterhalt, Schule, Hobbies – alles frisst uns auf. Die Medien tragen das Ihre zu der Schnellebigkeit bei. Bei meiner düsteren Schilderung verkenne ich nicht die vielen Situationen, wo wir es Gott sei Dank anders erleben! Es gibt tatsächlich noch manchen, der für die Hilfe im Garten zwei Stunden Fahrt auf sich nimmt. Oder der für einen Besuch oder Fahrdienst seinen Vormittag einsetzt. Versteht mich bitte nicht falsch! Wir sind so dankbar, dass wir es tatsächlich auch anders erleben.

Wisst ihr, was ich mir darum wünsche? (Ich rede jetzt zu denen unter den Lesern, die mich vorher schon kannten.) Ich wünsche mir, ich denke auch für andere in ähnlicher Lage, und vor allem für unsere Ehefrauen, dass wir nicht zueinander auf Distanz gehen. Ich wünsche mir, dass du mir ganz normal oder im der gleichen Art begegnest – so häufig oder so selten, wie es vorher war. Dass du mich besuchst – ich werde offen sagen, falls es mir zu viel ist. Dass du mich einfach mal zwischendurch anrufst – wenn es wegen Schmerzen oder Terminen nicht geht und ich nicht abnehme, dann probiere es einfach später noch mal. Und zum Beispiel, dass du mir einfach erzählst, wie es bei dir geht – du musst überhaupt nichts Besonderes sagen, meine Krankheit ist nicht DAS Thema, sondern bei solchen Begegnungen eher unwichtig; mich interessiert viel mehr, wie sich deine Kinder entwickeln, und ob du die neue Arbeitsstelle bekommen hast oder nicht, usw. … einfach das ganz normale Leben. Damit wir ein bisschen daran teilhaben können, und du mir das Gefühl gibt, noch dazu zu gehören. Was ja auch der Fall ist! Und ich erzähle dir gerne von meinem Alltag, ohne dich mit Details von Medikamenten und Spritzen und anderen persönlichen Erlebnissen zu belasten oder zu langweilen. Mein Leben dreht sich nicht ausschließlich nur noch um meine Krankheit! Auch ich bin dabei zu lernen und zu verstehen, dass dein Leben mit Freud und Leid, mit Arbeit, Freizeit und Vergnügen, mit unbeschwerten Reisen und Erlebnissen, eben ganz normal weitergeht; weder kannst du etwas für meine Krankheit, noch muss wegen mein Krankheit dein Leben aufhören. Keiner braucht dabei ein schlechtes Gewissen haben.

Aber muss jemand deswegen einsamer werden? Nein, wirklich nicht – es gibt schon viel zu viel einsame und verzweifelte Leute! Willst du dabei helfen? Ich bin gespannt, was du darüber denkst. Wenn du dich angesprochen fühlst – dann überlege mal, ob es Leute in deinem Umfeld gibt, deiner Gemeinde oder dem weiteren Umkreis, die in einer solchen Lage sind. Ich habe das gerade mal zwei Tage gespürt, bin aber objektiv nicht wirklich einsam (wofür ich so dankbar bin). Wie fühlt wohl jemand, der schon zwei Monate lange krank ist … oder zwei Jahre? Oder schon seit 20 Jahren erst im betreuten Wohnen, dann in der Teilpflege, jetzt in der Vollpflege zugebracht hat Vielleicht findest du eine Aufgabe?

Zum Schluss …

Jetzt ist dieser Beitrag doch viel länger geworden als ich ursprünglich dachte. Aber das Thema ist mir einfach über die vergangenen Tagen wichtig geworden. Ich hoffe, es hilft euch etwas. Und ich freue mich auf das normale Leben mit euch! Und zwar an jedem Tag, den Gott mir in seiner Gnade und auch euch schenkt. Wenn wir jeden Tag auf das Ziel ausrichten, dass Gott uns zu seiner Ehre geschaffen hat und entsprechend leben, arbeiten und mit anderen kommunizieren, dann können wir die Atmosphäre unseres Umfelds positiv verändern. Trotz unheilbarer Krankheit.

Danke & Bitte

Wir sind sehr dankbar dafür eure Gebete und Anteilnahme, eure Briefe, Nachrichten und Ermutigungen. Wenn ihr wieder an uns denkt, dann dankt mit uns dafür:

  • Ich habe in der ersten Phase (12 Wochen) weder Fieber noch Infektion gehabt – das ist überhaupt nicht selbstverständlich!
  • Die Nebenwirkungen der Chemo waren insgesamt da, aber immer moderat und erträglich.
  • Meine Werte, die den Grad der Krankheit anzeigen, sind von Zyklus zu Zyklus deutlich besser geworden.

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Dafür bitten wir euch, weiterhin mit uns zu beten:

  • Wir bitten um Heilung – Gott ist souverän und kann, WENN ER WILL, das Wunder jederzeit tun.
  • Wir beten, dass die Auswertung der Knochenmarksprobe vom 12. Juli die positive Auswirkung der Therapie zur Zurückdrängung der Krankheit nochmal deutlich bestätigt und dass die Voraussetzung zum Start der nächsten Phase damit erreicht sind.
  • Wir hoffen, dass ich keine lange Wartezeit bis zum Beginn der nächsten Phase habe.
  • Es wäre wichtig, dass ich weiterhin keine Infektionen oder Fieber bekomme, und keine anderen unerwünschten Komplikationen auftreten.
  • Wenn ich von weiteren übermässigen Rückenschmerzen oder Anfällen von Kraftlosigkeit verschont bleibe, wäre ich froh.
  • Als Ehepaar haben wir begrenzte Kraft; darum wünschen wir uns, dass wir Zeiten der Ruhe zu zweit finden, die unserer Beziehung immer wieder gut tun.

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Seit der ersten Schocknachricht am 14. April sind noch nicht einmal drei Monate vergangen. Irgendwie meinte Dietlind kürzlich, dass uns diese Wochen so ziemlich überrollt haben. Wir konnten nie viel durchschnaufen, uns mal hinsetzen und über die vielen neuen, die ungewohnten und oft ungewollten Erfahrungen reden, sie einordnen oder verarbeiten, indem wir das eine oder andere aufschreiben, damit wir es nicht vergessen. Dieser Beitrag zur Einsamkeit ist die Ausnahme, über den wir uns jetzt intensiver ausgetauscht und ein paar unserer Gedanken niedergeschrieben haben. Es gäbe auch noch mehr Themen; von dem einen oder anderen dann vielleicht ein anderes Mal. Bis dahin sind wir sehr dankbar für alle eure Gebete, die Dietlind und mich spürbar begleiten und durchtragen helfen.

Herzliche Grüsse
Andreas

PS: Meine Frau hat dazu eine Ergänzung geschrieben.

Kommentare

2 Antworten

  1. Lieber Andreas,
    als ich die Worte über die gefühlte Einsamkeit las, musste ich an die Psalmverse denken: Ich gleiche dem Pelikan in der Wüste, bin wie die Eule der Einöden. Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dach. (Ps 102, 7 und 8.) Unser Herr hat auch dies durchgemacht; er kann uns bewahren vor innerer Emigration. Er erhalte euch das Bewusstsein seiner unsichtbaren Gegenwart.

    1. Danke lieber Edi, für diesen Hinweis! Ja, zu wissen, dass der Herr voller Mitgefühl ist, weil er es selbst noch viel mehr erlebt und durchlitten hat, bedeutet uns so viel. Er ist uns nahe und versteht. Wünschen auch dir das Bewusstsein seiner Nähe! Gruss, Andreas

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